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Die Idee, die aus der Kälte kam – Community Art in Finnland1

Pia Bartsch
décembre 2015

DOI : https://dx.doi.org/10.56698/filigrane.713

Résumés   

Résumé

Cet article présente le témoignage d’une artiste engagée qui s’est consacrée à « l’art communautaire » (Community Art). Ce mouvement, qui a vu le jour dans les années 60 aux Etats-Unis, s’est rapidement propagé au Canada, en Grande Bretagne, en Irlande et en Scandinavie. Il vise à mettre l’art au service de populations la plupart du temps marginalisées socialement, économiquement, culturellement ou géographiquement, afin de les soutenir dans leurs questionnements et la recherche de leurs propres réponses. L’art devient ainsi le catalyseur de transformations et le facilitateur de liens au sein de la communauté, locale ou virtuelle.
L’artiste allemande Pia Bartsch est, grâce à la Fondation Saari qui attribue des bourses à des chercheurs en sciences sociales, sciences de l’esprit et en art, en résidence en Finlande où elle travaille avec les habitants de Mynämäki au sud-ouest du pays. A travers un journal de bord, elle relate trois expériences artistiques menées avec différents groupes d’habitants de tous âges dans le but de renforcer leur compréhension et leur attention mutuelles.

Abstract

This article presents the experience of a committed artist devoted to the “Community Art”. This movement, born in the 60s in the United States, was quickly expanded to Canada, the United Kingdom, Ireland and Scandinavia. It aims to put the art to the service of populations, most of the times in social, economic, cultural or geographical marginalization, to support them in their questioning and in the research of their own answers. Art becomes this way a transformation catalyzer and a bond facilitator within a community, local or virtual.

Extracto

Este artículo presenta el testimonio de una artista comprometida consagrada al “arte comunitario” (Community Art). Dicho movimiento, que nació en los años 60 en Estados Unidos, se propagó rápidamente a Canadá, Reino Unido, Irlanda y Escandinavia. El “arte comunitario” pretende poner al arte al servicio de las poblaciones, muchas veces marginadas socialmente, económicamente, culturalmente y/o geográficamente, para apoyarlos en sus cuestionamientos y en la búsqueda de sus propias respuestas.  El arte se convierte así en catalizador de transformación y facilitador de vínculos en el seno de la comunidad local o virtual.

Index   

Texte intégral   

1Als wir im Herbst 2009 mit Kolleg_innen an einem integrativen Kunstfestival in Rostock teilnahmen, fielen in Finnland gerade die Entscheidungen über Projekte, die für das Jahr 2011 in das Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Turku aufgenommen werden sollten. Wir hatten alle unsere auf lautlos gestellten Telefone im Auge und warteten gespannt auf Neuigkeiten aus Turku … Als die ersehnten Mitteilungen endlich eintrafen, hatten wir allen Grund, mit Sekt anzustoßen!

2So hatte ich selbst das Privileg, von Oktober 2009 bis Dezember 2011 an zwei Kulturhauptstadt-Projekten mitarbeiten zu dürfen: den 2000 & 11 Selbstporträts, eines Projekts der Kunsthochschule Turku, und  Brückenbauer, einer Veranstaltungsreihe des eingetragenen Vereins Kynnys ry, einer Selbstbestimmt Leben –Organisation, deren Ziel es ist, Menschenrechte für behinderte Menschen durchzusetzen. In beiden Projekten war von Anfang an die Zusammenarbeit professioneller Künstler_innen mit Menschen verschiedenster sozialer Gruppen Grundlage des Konzepts. Das war für mich eine lang und froh erwartete Herausforderung nach meiner zweijährigen künstlerischen Spezialausbildung für Community Art von 2006 bis 2007.
Community Art ist eine Kunstform, bei der professionelle Künstler_innen und Menschen, die künstlerisch nicht aktiv engagiert sind, in enger Gemeinschaft zusammenarbeiten. Der Begriff wurde in den späten 60er Jahren im Zusammenhang mit künstlerischen Aktivitäten definiert, die sich in Großbritannien, Irland, den USA, Kanada und Australien entwickelten. In Skandinavien sind Community Art –Projekte  oft Werke zeitgenössischer Kunst. Mitglieder einer (lokalen) Gemeinschaft verbinden sich, um gemeinsam mit professionellen Künstler_innen Bedenken, Fragen oder Probleme künstlerisch auszudrücken und Reaktionen oder Veränderungen auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene auszulösen.

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4Einen Arbeitsplatz für eine Community Art –Künstler_in hat die Stiftung KONE, welche wissenschaftliche Arbeit im humanistischen - , Gesellschafts- und Umweltbereich sowie Kunst und Kultur fördert, in der Residenz Saari eingerichtet, in der Künstler_innen und Wissenschaftler_innen leben und arbeiten. Von Anfang September bis Ende April sind jeweils zwei Monate lang acht Künstler_innen und/oder Wissenschaftler_innen Residenzgäste, dazu kommt eine eingeladene Künstler_in, die von September bis April für acht Monate in der Residenz arbeitet. Im Sommer verwirklichen Gruppen in zwei- bis dreiwöchigen Residenzperioden ihre Projekte. Der Brunnen von Saari ist ein Konzept der Residenz, das Künstler_innen und Wissenschaftler_innen sowohl zu Kommunikation und Erfahrungsaustausch anregt als auch dazu, gemeinsam Neues zu erfinden, auszuprobieren und vielleicht in späteren Projekten zu verwirklichen.
Um den Residenzgästen Ruhe bei ihrer Arbeit zu garantieren, arbeitet eine Community Art –Künstler_in mit der lokalen Bevölkerung und gegebenenfalls mit den Residenzkünstler_innen zusammen und realisiert partizipatorische Projekte in Südwestfinnland. Nach 2011, als die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für viele meiner Kolleg_innen in Turku wieder rar wurden, bekam ich diese wunderbare Gelegenheit.

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6Am 1. März 2012 begann ich meine Arbeit in der Residenz und zum alljährlich Ende Mai stattfindenden Tag der offenen Tür wollte ich mein erstes Projekt vorstellen, eine Performance mit Frauen aus der Region.

Die Sirenen von Saari

7Ich wollte für Frauen der Nachkriegsgeneration, die selten nach ihrer Meinung gefragt wurden und nur bedingt selbst Entscheidungen treffen konnten, ein Fest ausrichten, einen roten Teppich ausrollen und sie, in Samt und Seide gekleidet, ehren.
Nur dass es mit dem Ehren nicht so einfach ist … Als ich – das Stadtkind zum ersten Mal auf dem Land – begann, von Tür zu Tür zu gehen und nach Frauen für das Projekt zu suchen, stieß ich auf die mir schon bekannte Ablehnung ”Ich bin doch nichts besonderes, das habe ich nicht verdient.”. Ich kann mich genau an mein Gefühl erinnern, irgendwie vollkommen falsch zu liegen und begann mich zu fragen, ob ich als Außenseiterin wohl meine eigenen Wünsche auf Leute projiziere, die diese Gedanken nicht im Geringsten teilen. Vielleicht machte es gar niemanden glücklich, zu einer Gruppe zu gehören und öffentliche Anerkennung für nichts anderes als das eigene, nicht immer einfache Leben zu bekommen?
In meinem Arbeitstagebuch steht auf der allerersten Seite „Heute hab’ ich die erste Frau für mein Fest getroffen, und es war nicht so ein success wie ich gehofft hätte – mit anderen Worten war es noch schwieriger als allgemein. Jetzt also überdenk ich das Konzept … Könnte ich die Frauen in erster Linie zu einem Fest einladen, die ‚Bedingungen’ später? Und gibt es überhaupt ‚Bedingungen’?  … Und wie würde ich reagieren, wenn jemand in meinem Flur stünde und ‚Kunst’ mit mir machen wollte …?“

8Nach den ersten frustrierenden Annäherungsversuchen wurde ich erst zuversichtlicher, als ich den Tipp bekam, Frauen in zwei lokalen Webstuben zu besuchen, die dort gemeinsam ihrem Hobby nachgingen. Vom Weben hatte ich keine Ahnung. Ich fühlte mich ziemlich doof und fehl am Platz bei der einen eher still, der anderen lautstark und fröhlich zusammengehörenden Gruppe von Frauen. Aber ich beschloss, dieses Gefühl zu ignorieren: Immer mal in Gebiete fern der eigenen Komfortzone zu geraten, ist anregend – besonders, wenn am Schluss alle das Gefühl haben, dass der Versuch glücklich verlaufen ist, und sich mit einem Lächeln daran erinnern!
Auf den Rat von Simo Vuotinen, unserem damaligen Verwalter, der jahrzehntelang in der Gegend gelebt hat, setzte ich mich erst einmal still auf die hinterste Bank und sah zu, wie die Frauen miteinander umgingen. Ich sagte kein Wort, nichts von einem Projekt und erst recht nichts von Kunst. Als wir dann ins Gespräch kamen, kam natürlich bald heraus, dass ich nicht weben lernen wollte. Ich schlug den Frauen, auch um meine Erfolgsaussichten zu erhöhen, ein gemeinsames Fest vor und lud sie nach Saari ein, das fast alle von früher her kannten, um alles zu besprechen.

9Am 28. März 2012 trafen wir uns endlich das erste Mal und planten für Mitte Mai ein Blumenfest. Dabei stellte sich heraus, dass eine der Frauen an genau diesem Tag auf Reisen war, ich wollte aber gern – dornröschenfeeengemäß – dreizehn Teilnehmerinnen. Inzwischen waren wir jedoch schon eine Art Gemeinschaft geworden, alle begannen ein wenig herum zu telefonieren und kurz danach kam eine, die dreizehnte Frau mit dem Fahrrad zu unserem Treffen – wir waren komplett. Gemeinsam überlegten wir Ziel und Ablauf des Festes und allmählich freundeten sich die Frauen mit dem Gedanken an, dieses Mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Wir einigten uns darauf, gemeinsam Festkleider mit Applikationen anzufertigen, jede einzelne Sirene sollte über den roten Teppich laufen, wir wollten gemeinsam auf sie anstoßen, Blumen pflanzen sowie zur Erinnerung eine Installation hinterlassen. Vorher wollte ich Interviews mit den Frauen machen, um sie kennenzulernen und später dem Publikum vorstellen zu können.

10Wir hatten nur knapp zwei Monate Zeit und so war alles ziemlich hektisch. Ich bin von Frau zu Frau gefahren und befragte sie stundenlang. Zum ersten Mal erfuhr ich etwas über das Leben auf dem Land und manche Geschichten waren herzzerreißend.
Ich arbeitete mit jeder Teilnehmerin einzeln, editierte die Gespräche danach und ging sie erneut mit den Frauen durch. Gemeinsam haben wir uns getroffen und besser kennengelernt, als wir die Kleider planten. Jede Frau überlegte, wer oder was ihr besonders ans Herz gewachsen sei und suchte ein passendes Bild aus, das wir auf Stoff druckten. Inzwischen hatte ich auch Schneiderinnen gefunden, Anna-Liisa Heinonen und Hanna Vänni, die den Frauen in so kurzer Zeit Festkleider entwerfen und nähen konnten. Anfang Mai 2012 haben wir sie in Workshops mit den individuellen Applikationen vollendet. Als die Kleider fertig waren, beschlossen die Frauen, dass sie auch einen Kopfschmuck haben wollten. Fast alle machten sich einen Kranz. Liisa aber besteckte den wunderschönen alten Hut ihrer Schwiegermutter mit Rosen.

11Um auch in Zukunft an die Sirenen von Saari und das Blumenfest zu erinnern, wollten wir etwas Bleibendes hinterlassen. Wir dachten über eine Installation an der ehemaligen Waschstube nach und ich stellte Fotos von Street Art Werken zusammen, über die wir diskutierten. Ihre Kaffeekannen – wie ich vorgeschlagen hatte – wollten die Sirenen nicht opfern, aber irgendeinen für Frauen traditionell typischen Gegenstand zu benutzen, fanden alle gut. Eine von ihnen hatte die Idee, Handtaschen mit Blumen zu bepflanzen und an die Wand zu hängen …  

12Was uns noch fehlte, war ein Name für die Gruppe. Wir entschieden uns für die Sirenen von Saari. Pirjo Kallio hatte diese Fabelwesen der griechischen Mythologie vorgeschlagen, deren Körper Frau und Vogel, später auch Frau und Fisch war. Nach der ältesten überlieferten Version von Homer lockten zwei auf einer Insel lebende Sirenen die Seefahrer nicht nur mit ihren hinreißenden Stimmen, sondern mehr noch mit ihrer Gabe, alles auf der Erde Geschehende zu wissen, an. Auf dem Eiland angelangt, starben die Männer, vielleicht erschöpft vom Zuhören. Denn gefressen wurden sie laut Odyssee nicht, von den Opfern ihrer Neugier fanden sich bleiche Knochen. Odysseus selbst entging diesem Schicksal nur, weil er sich am Mast seines Schiffes festbinden ließ und seinen Reisegefährten die Ohren mit Wachs verstopfte.

13Eine andere Version der Sirenensage berichtet, dass die Vogelfrauen sich von Hera, der grundanständigen Gattin des Zeus, Wächterin der ehelichen Sexualität und Beschützerin von Ehe und Geburt, in einen Gesangswettkampf mit den Musen verwickeln ließen, den die Sirenen verloren. Sie mussten Federn lassen, aus denen die Gewinnerinnen sich Kränze flochten. [1]
All dessen eingedenk entschlossen wir uns für den Namen: Wie ihre mythologischen Vorfahrinnen sehen sich die Sirenen von Saari als Frauen am Meer mit wunderschönen Stimmen, die Bescheid wissen über das, was auf der Erde geschieht. Ihre Verführungskraft ist unwiderstehlich und worüber sie sprechen, fasziniert alle. Allerdings schicken die Sirenen von Saari niemanden mehr in den Tod – vielmehr locken sie ins Leben.

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15Das Wetter zum Blumenfest war dann – wie bestellt – wundervoll. Unter den Bäumen im Park standen weiß gedeckte Tische mit Sektgläsern und Schalen voller Erdbeeren. Die Frauen liefen einzeln über den roten Teppich zu ihrem Platz, während ich die natürlich sehr verdichtete Geschichte ihres Lebens vorlas, und bekamen vom Publikum Applaus. Als alle dreizehn Sirenen Platz genommen hatten, spielte der Akkordeon-Künstler Timo-Juhani Kyllönen für die Frauen und wir stießen miteinander an. Danach wurden den Frauen auf Tabletts von dazu eingeladenen Angehörigen oder Freund_innen weiße Handschuhe, ihre Handtaschen und Blumen gebracht. Jede Sirene hatte eine für sie besonders wichtige Tasche ausgesucht, deren Geschichte sie ihrer Begleiter_in erzählte, während sie Blumen in ihre Tasche pflanzte. Mit diesen handgeschriebenen Texten und Fotos vom Fest gestaltete ich später für alle Teilnehmer_innen ein kleines Buch zur Erinnerung.
Zum Abschluss des Festes hängten wir zusammen die blühenden Handtaschen so auf, dass sie von der Straße aus gut zu sehen waren – und, jedes Frühjahr neu bepflanzt, gut zu sehen sind. Zuletzt posierten wir noch für ein Gruppenfoto und waren alle sehr gerührt.

16Hilkka Eeva, die Tochter von Marja-Liisa, war bei unserem Fest dabei und hat es so erlebt:

”Der Park von Saari war die vollendete Kulisse für die von der Künstlerin Pia Bartsch erarbeitete Performance Die Sirenen von Saari. Es hat Spaß gemacht, an einem so sonnigen Tag Geschichten aus dem Leben der Sirenen von Saari, mit all ihrem Glück und Leid, zu hören. Bei vielen der Erzählungen sind uns Zuschauer_innen unzählige Erlebnisse wieder eingefallen und auch ich habe mich mit Sirkka-Liisa über viele gemeinsame Erinnerungen unterhalten.

17Es war ein bildschöner Anblick, als die Sirenen in ihren roten Kleidern zur Festtafel gelaufen sind. Wir Zuschauer_innen waren vielleicht am Ende noch aufgeregter als die mitwirkenden Frauen, denn bei vielen von ihnen sah es so aus, als wären sie auf dem roten Teppich zu Hause.
Die Aufführung war sehr festlich, aber sie hat meiner Meinung nach auch das frohe und entspannte miteinander Sein und miteinander Tun der Sirenen von Saari vermittelt.

18Mit freundlichen Grüßen,
Hilkka Eeva“

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20Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die meisten der dreizehn Sirenen haben sich seitdem an vielen anderen Projekten beteiligt, manche schon an der Rosenbrücke.

Die Rosenbrücke

21Im Frühjahr 2012, bald nach unserem Blumenfest mit den „Sirenen von Saari“, waren meine Chefin Hanna und ich zu einer Versammlung des Mynämäen Asemanseudun kylät ry –e.V. eingeladen. Fleißige Freiwillige hatten in Austausch mit den französischen Kunstvereinen Chambre d’eau und Scènes obliques begonnen, ein Kunstfest in ihrer Gemeinde vorzubereiten. Die Kunst sollte in Wald und Wiese stattfinden und – am Fluss! Bäche und Flüsse liebe ich schon von klein auf und es stellte sich heraus, dass die Vereinsmitglieder den Wunsch hatten, dass „irgendetwas mit der Brücke“ passieren sollte.
So hoben wir mit den Sirenen von Saari, ihren Freundinnen, Bekannten und neuen Interessierten das Projekt „Rosenbrücke“ aus der Wiege und beschlossen, die hölzerne Fußgängerbrücke über den Fluss Mynäjoki mit Wollresten einzustricken. Zu Anfang schauten wir uns unzählige Bilder von „Guerilla Knitting“ an, gestrickte oder in anderen Handarbeitstechnicken entstandene Textilien, die anonym im öffentlichen Raum angebracht werden.
Ich glaube, bei Street Art und öffentlichen Interventionen geht es (auch) darum, sich über persönliche Erfahrungen mitzuteilen. Man wählt ein Stück seiner Umgebung, markiert es und hinterlässt ein Zeichen, das aus einem sonst allgemeinen Ort einen individuell bedeutenden macht. Erlebnisse, Erfahrungen oder Meinungen werden sichtbar und Austausch sowie Auseinandersetzung möglich. Sicher gibt es auch deshalb andauernd Veränderungen an den Werken: Kommentare, Ergänzungen, Verwandlungen oder Entfernungen.

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23International gilt Magda Sayeg aus Austin / Texas als Erfinderin oder zumindest Pionierin von „Guerilla Knitting“, auch „Yarn Bombing“ oder Strickgraffiti genannt. Sayeg  begann im Jahr 2005 mit Nadel und Faden statt Spraydosen ihre Umgebung zu verändern. Ihre erste Aktion war eine reine Verschönerungskur: Gegenüber ihrer neueröffneten Boutique befand sich eine Glas-Stahl-Konstruktion und um die Aussicht aus ihrem Fenster etwas reizvoller zu machen, bat sie eine Freundin, ihr zu helfen, das Stopp-Schild der Strasse einzustricken. "Suddenly, magic happened", sagte sie. [2]
Und der Zauber geschieht, auch in Finnland. Die ersten „Yarn Bombings“ tauchten hier um 2008 auf. Damit wurde traditionell weibliche Arbeit aus dem trauten Heim in den windigeren öffentlichen Raum befördert. In ihrer fröhlich-flauschigen Erscheinung werden die sympathischen Einmischungen kaum als Vandalismus empfunden und meist akzeptiert, auch weil sie leicht und schadensfrei zu entfernen sind. Darüber hinaus tragen Wind und Wetter, Mensch und Tier dazu bei, dass die Arbeiten nicht ewig halten. Ernsthafte Strickgraffiti-Aktive haben deshalb fast alle eine Internetseite mit perfekten Dokumentationen ihrer Schöpfungen oder gar Street Art Kurator_innen, die sich um Einladungen zu Projekten und Ausstellungen in aller Welt kümmern.
Aber wenn wir zufällig auf Strickgraffiti stoßen, haben die Werke eine andere Wirkung. Die kleinen Verwandlungen in der gewohnten Umgebung, an altbekannten Orten und alltäglichen Gegenständen, lassen uns stutzen und möglicherweise ein zweites Mal genauer hinsehen. Dieses „genauer Hinsehen“ kann unser Verhältnis zur Umgebung und auch zu uns selbst verändern. Hinterfragende, nachdenkliche oder witzige Street Art Werke können im besten Fall ganz neue Aussichten und Einsichten eröffnen. Weil die Werke oft ebenso schnell auftauchen wie sie wieder verschwinden, gibt es immer Neues zu entdecken. Street Art ist ein bisschen wie Pilze suchen: wenn man erst ein oder zwei entdeckt hat, schärft sich der Blick und man findet jede Menge mehr. Manchmal stellt sich dann auch der Wunsch und Wille ein, selbst Hand an Gewohntes zu legen und die eigene Umgebung zu verändern, sie individueller, freundlicher und fröhlicher zu machen. So ging es uns.

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25Die „Strickistinnen“ Betina Aumair und Antonia Wenzl sagen auf ihrem deutschsprachigen Blog Mädchenmannschaft über Guerilla Knitting: „Wie gut du Stricken kannst, ist nicht unbedingt ausschlaggebend für die Gestaltung eines Teils der Aktion. Es geht vor allem um Kreativität und Lust am Aktionismus. Das textile Kunstwerk muss nicht schön sein, es soll nicht Dekoration sein, sondern Symbol.”
Nun, reine Dekoration wollten wir auch nicht, aber mehr als ein Symbol schon. Wir wollten eine bleibende Veränderung, und wir wollten unser Können unter Beweis stellen. Die Brücke sollte schöner werden, also musste die Verwandlung auch perfekt gemacht sein. Sicherlich ist Guerilla Knitting etwas anders, wenn bildende Künstler_innen beteiligt sind, trotzdem bedeutet es immer unerlaubte Einmischung und Eingriff … Magda Sayeg hat in einem Interview betont, dass sie kein Yarn Bombing macht, wenn sie für Modehäuser auf Bestellung ganze Räume über drei Etagen hin einstrickt. Unerlaubte öffentliche Interventionen lösen dagegen, anders als beispielsweise in der Schublade versteckte Gedichte, oft eine unmittelbare Diskussion aus. Für die Ausführenden, deren Arbeit gelobt und bewundert wird, muss es befriedigend sein, zusammen etwas geschaffen und „richtig“ gemacht zu haben. Aber auch das gemeinsame Verarbeiten negativer oder ambivalenter Reaktionen auf die Werke wirkt sich sicher auf die Teilnehmer_innen aus und bringt sie einander näher.
Unser Projekt war irgendwo zwischen Intervention und Auftragswerk angesiedelt und davon war die Art der Vorbereitung, Ausführung und Präsentation geprägt. Ich setzte Anfang Juli eine kleine Anzeige in die örtliche Zeitung und von da an trafen sich den ganzen Sommer über ungefähr dreißig Frauen und ein Mann jeden Dienstag zwischen morgens zehn und abends neun Uhr bei uns in der Residenz Saari zum Stricken und Häkeln. Die meisten von ihnen waren aus Mynämäki, aber es kamen auch Interessierte von weiter her, aus Askainen, Raisio und Turku. Die Rosen – und somit auch die Rosenbrücke – verdanken ihre Entstehung übrigens dem Wunsch der Teilnehmerinnen selbst: Ein paar von ihnen sahen sich außer Stande zu stricken und schlugen vor, lieber zu häkeln!
Die angenehme Erfahrung der Handarbeitstage mit den Sirenen von Saari wiederholte sich: Während die ewig gleichen Bewegungen der Hände beim Stricken, Häkeln und Nähen die Teilnehmer_innen in einen beinahe meditativen Zustand versetzen, verändert sich mit dem Blick auf die eigenen Hände das Gespräch und wird vertrauensvoller und vertraulicher. Wir haben viel gelacht, manchmal geweint, und mitunter sind wir uns sehr nah gekommen. Und wieder einmal hatte ich, wie schon bei so vielen Projekten vorher, das Gefühl, dass dieser Prozess – das Zusammensein, miteinander reden, lachen und weinen, sich näher zu kommen, einander besser zu verstehen und darauf beruhend sich anzuerkennen und zu achten – das wahre Kunstwerk ist …

26Vor Projektbeginn war ich mit dem Metermaß an der Brücke und hatte alle möglichen Details vermessen. Es war einer der seltenen warmen Tage in jenem Sommer, Eidechsen sonnten sich gut versteckt im Ufergebüsch – und es roch ringsherum ein bisschen wie Kindheit. Ich machte Skizzen in meinem Arbeitstagebuch und entsprechend haben wir dann im Juli und August für die Brückengeländer Wollstreifen von insgesamt mehr als 150 Meter Länge gestrickt. Die alles in allem ungefähr 80 Meter langen grünen Ranken der mittleren Streben mit ihren grünen Blättern und den mehr als 600 gehäkelten Rosen in allen „echten“ Rosenfarben von weiß über rosa, gelb und orange bis zum tiefsten rot haben der Brücke später ihren Namen gegeben. Als Referenz an die nahegelegene Schule und ihre einstigen und jetzigen Schüler und Lehrer hatte ich außerdem Tierabbildungen von alten Lehrtafeln fotografiert, die als Textildrucke den unteren Teil der Brücke schmücken. An den letzten Tagen vor dem großen Ereignis waren wir mit Ausschneiden, Zusammenstellen, Nähen und Verpacken beschäftigt und im großen Festsaal von Saari sah es chaotisch aus.

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28Der kalte und regnerische Sommer blieb sich leider auch am Vorabend des Kunstpfades treu und bei Wind und Regen begannen wir, die Brücke in ein Kunstwerk zu verwandeln. In Regenjacken und Gummistiefeln vernähten wir mit klammen Fingern die Wollbahnen und banden Rosen und Girlanden um die Brücke. Außerdem hatte ich Anhänger mit den Namen aller Teilnehmer_innen und einem Foto ihrer Hände an die von ihnen angefertigten Stoffbahnen gebunden. Zum Schluss wurden die Tierbilder mit einer wahrscheinlich jeden Profi beunruhigenden Kreation aus Balken, Gurten und einer Leiter unfallfrei am Unterbau der Brücke befestigt.
Am Morgen des achten September 2012 klärte das Wetter aber doch noch auf, zwischendurch schien sogar die Sonne, und das Fest begann. Über tausend Menschen aus nah und fern kamen von morgens um 11 Uhr bis weit nach Mitternacht zum Bahnhofs-Kunstpfad Bonjour (Aseman Taidepolku Bonjour) und das Festprogramm war ambitioniert und vielfältig: Es gab zwei Kunstausstellungen in der Schule; Theater, Performance und Spiele auf dem Schulhof; Musik und Zauberei im großen Festzelt auf dem Schulsportplatz; Aufführungen am Bootssteg Asmandia und 17 Kunst-Stationen unter freiem Himmel auf dem rund zwei Kilometer langen Naturlehrpfad. Über 150 Mitwirkende und viele Freiwillige hatten zum Teil wochenlang all ihre Energie und Freizeit in das Ereignis gesteckt und es wurde ein unvergesslicher Tag!
Schon auf der Straße zum Festgelände wiesen „Wegweiser“ in umgearbeiteten Flohmarktkleidern den Ankommenden den Weg zu allgemeinem Treffpunkt und erster Kunststation am Gelände um die Schule, wo ein großes Festzelt die Zuschauer mit seinen Vorführungen anzog. Die Wegweiseridee war von Leena Gustafsson, verwirklicht mit Illustrationen von Sophia Bartsch.

29Die zweite Station war ein ehemaliges Brunnenhaus, aus dem eine Kombination aus Gespensterschloss und Knutschbude geworden war. Die Verwandlung des grauen Betonklotzes hatten Schüler_innen der fünften und sechsten Klasse in einem Street Art –Workshop mit mir geplant. Sie haben die außen leuchtend bunten, innen schwarz gestrichenen Wände mit Graffitis verziert. Ihre demokratisch erarbeiteten und visuell vom mexikanischen Tag der Toten inspirierten Entwürfe von Gerippen, Gespenstern und Totenköpfen passen perfekt zu den türkisen, rosa und orangen Wänden. Zuletzt legten wir im ehemaligen Brunnenloch einen kleinen „Park“ für die Frösche an, in den ihnen Marko Vilola, Baumeister der Brunnenabdeckung, noch eine Leiter baute. Abschließend wurden die Gitter verschraubt, die die Frösche vor den Kindern und die Kinder vorm Abstürzen schützt.
Von der Knutschbude konnten die Besucher zur Bootsanlegestelle Asmandia mit Lagerfeuer und Liedermachern gehen und eine Fahrt mit dem Heringskahn machen. Die Fähre, die einen ganz neuen Blick auf Landschaft und Rosenbrücke eröffnete, war den ganzen Tag unterwegs und die 15 Plätze waren immer belegt. Das Boot fuhr zu den Stromschnellen bei Raukkaa, wo der eigentliche Kunstpfad begann, der zuerst zum Aussichtsplatz beim Berg Rauasvuori und von dort über Waldwege zum Dorf Nuuskala mit einem von den Anwohnern aufgebauten Rastplatz führte. Auf dem Naturpfad haben Künstler_innen und Amateure sechs Stunden lang Musik, Performance, Gedichte und vieles mehr dargeboten. Der Künstler Antti Huovinen zum Beispiel hat im Wald mit Kindern ein Flugmobil gebaut, das immer noch in den Baumwipfeln von Asmandia im Wind schaukelt. Vom Kunstpfad aus ging es Feldwege entlang zurück zur Schule und dem großen Festzelt. Am Abend wurde es zwar wieder regnerisch und kalt, aber die letzten Gäste blieben bis spät in die Nacht und ich glaube, schon damals wurden erste Pläne für das nächste Jahr gemacht.
Seit dem ersten Kunstpfad sind inzwischen mehr als zwei Jahre vergangen und das Brückenkleid hat trotz zwischenzeitlicher Reparaturen unter den Jahreszeiten, Mensch und Tier gelitten … Im Frühjahr 2015 haben wir mit den Kindern der ersten bis sechsten Klasse Schule Asemanseutu begonnen, ein neues Brückenkleid zu gestalten. Die Kinder haben ihre Eltern zu interessanten Fragen interviewt, die wir uns vorher ausgedacht hatten, und die Eltern ihre Kinder. Die daraus entstandenen, handgeschriebenen Erzählungen über die Brücke und ihre Geschichte sowie Wald und Feld in der Umgebung werden bald auf die Brücke geklebt. Komplettiert mit von den Schüler_innen gezeichneten Bildern von großen und kleinen Tieren werden sie die Brücke am 22. August zum Dorffest neben den altbekannten, frisch gewaschenen Rosen schmücken.

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31Als im Frühjahr 2013 der Tag der offenen Tür in Saari wieder heranrückte und auch das europäische Projekt des Mynämäen Asemanseudun kylät ry –e.V.’s weiter lief, wurde das nächste Kunstfest, ein „französisch“ geprägtes Picknick am Flussufer mit Kunstdarbietungen auf einem vorübergleitenden Kahn, geplant. Da erinnerte ich mich an tableaux vivants, von denen ich vor Ewigkeiten gelesen hatte, diese Kunstform wollte ich nutzen.

Rokokoo Grunge Caramel

32Ursprünglich wurden die lebenden Bilder von Stéphanie Félicité Du Crest de Saint-Aubin, bekannt als Madame de Genlis, der Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orleans, zur Belehrung und Unterhaltung ihrer Zöglinge erfunden. Bei ihren Bildern stellten Personen Gemälde von Jaques-Louis David und Jean-Baptiste Isabey nach und verharrten für eine kurze Weile in ihren Positionen. Madame hatte die Kunst des Stillhaltens auf die Bühne gebracht. [3]
Das Konzept fand ich entzückend, bei der Erarbeitung eines solchen lebenden Bildes konnten wir zum Thema „französisch“ was auch immer auswählen, recherchieren und kreativ umsetzen. Als ich mehr über Madame de Genlis las, stieß ich auf das Rokoko, das mir aus meiner Heimatstadt Dresden vertraut war. Mit Barock und Rokoko habe ich den Kopf schon immer voll – Möbel, Teppiche, Gemälde, Statuen, Kunstschätze, Schlösser, Museen, Bücher und Kino wirbeln durcheinander. Den Film „Marie Antoinette“ der Amerikanerin Sofia Coppola aber, mit seinem visuell zweifellos vollendet ausgefeilten Entwurf, habe ich trotzdem völlig ratlos verlassen. Jenseits der zuckersüßen Bilder von Märchenkönigin, kunterbunten Petit Fours, perlmutternen Spielmarken und handbestickten Seidenschuhen war nichts zu sehen von der politisch vielleicht brisantesten aller Zeiten in Frankreich, als es an allen Ecken und Enden gekocht hat.

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34Marie Antoinette machte Politik, verfolgte ihre Interessen, intrigierte und stürzte Minister, bevor das Ancient Regime und sie selbst gestürzt wurden. Darüber schreibt Stefan Zweig in der Biografie der Königin. Doch dieses Buch, fand Coppola, ginge zu streng mit der Österreicherin um und sie beschloss, es beiseite zu lassen. Und ich frage mich ganz heimlich, ob nicht auch ein über die Jahrhunderte hinweg reichendes, bizarres Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den aus der gesellschaftlichen Realität ausgestiegenen Eliten daran schuld ist, welches Coppola davon ausgehen lässt, mit Marie Antoinette wäre nur eine junge Frau, beinahe ein unschuldiges Kind noch, zur falschen Platz am falschen Ort gewesen und hätte doch gar nichts getan...
Marie Antoinettes Mutter Maria Theresia vertrat im Wien des 18. Jahrhunderts die Auffassung „So ist ein Landesfürst schuldig, zu Aufnahme oder Erleichterung seiner Länder und Unterthanen wie auch deren Armen, alles anzuwenden, keineswegs aber mit Lustbarkeiten, Hoheiten und Magnifizenz die einhebenden Gelder zu verschwenden.“ [4] Ihre Tochter aber sagte Botschafter Mercy, der ihr regelmäßig die mütterlichen Ermahnungen überbrachte: „Was will sie? Ich habe Angst, mich zu langweilen.“ [5]

35Gegen ihre Langeweile gab sie Unsummen aus, während der Brotpreis in Paris so hoch wie nie zuvor war. Der „Mehlkrieg“ hatte schon 1775 zu Plünderungen in Dörfern rings um Paris und organisierten Krawallen in der Hauptstadt geführt, bis König Ludwig der XVI. seine Armee anrücken ließ. Zeitgenössische Berichte über das geschichtlich erstmalige Exemple d’émeute populaire betonen, dass die Brotrevolten von den Aufständischen als etwas „Wunderbares“ und „Unglaubliches“[6] erlebt wurden – schwärmerische Worte, die im übrigen denen der heute Rebellierenden in den Trabantenstädten Europas aufs Haar gleichen.
Während der Unruhen in Großbritannien 2011 befragte ein Reporter von Independent Television (ITV) in London Beteiligte, ob Krawalle derer Meinung nach der richtige Weg wären, Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Ein junger Mann antwortete ihm „Ja! Ohne die Unruhen würden Sie jetzt nicht mit mir reden, oder? Vor zwei Monaten sind wir vor Scotland Yard aufmarschiert, mehr als 2.000 von uns, alle schwarz, es ging ruhig und friedlich zu, und wissen Sie was? Kein Wort davon in den Medien! Letzte Nacht gab es ein bisschen Krawall und ein paar Plünderungen – und nun schauen Sie sich um.“ [7]
Krach, Krawall oder andere Frustdemonstrationen werden von den Unterprivilegierten, aus der Gesellschaft mehr oder weniger Ausgeschlossenen, oft als einzige und letzte Möglichkeit empfunden, sich bemerkbar zu machen. Community Art könnte hier möglicherweise eine Alternative sein, Probleme zu benennen und schöpferisch nach Lösungen zu suchen.
Stefan Zweig schreibt auch „Vielleicht konnte dem Rokoko nur jenes Nichtwissen und Nichtwissenwollen um alle Tragik und Trübe der Welt jene bezaubernde Grazie, jene leichte, sorglose Anmut geben; nur wer den Ernst der Welt nicht kennt, kann ja so selig spielen.“ [8] Diese Worte gingen mir nach. Sollen umgekehrt Wissen und Wissenwollen um die eigene Zeit Grazie, Anmut und Spiel ausschließen? Bei unserer Performance jedenfalls sollten bei allem Ernst der Welt verbindende Freude, gemeinsames Spiel, Anmut, Grazie und so dringend nötige Fröhlichkeit im Mittelpunkt stehen.

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37An der Aufführung „Rokoko Grunge Caramel – Tableau vivant“ waren zehn Einwohner_innen des Dorfes Aseman kylä, Kinder und Erwachsene, beteiligt. Eine Woche vor der ersten Aufführung hatte Kari Mäkelä zur Verstärkung noch zwei Paare mitgebracht, die sich in ihrer Freizeit künstlerisch betätigen, malen und Skulpturen machen. Wir hatten für die Vorbereitungen sehr wenig Zeit und so hat sich die eigentliche Idee von Community Art, einander kennen zu lernen, miteinander Probleme zu erörtern und gemeinsam Lösungen zu suchen, die wiederum verbindend sind, nicht erfüllt. Einer der Teilnehmer sagte später „Ich weiß nicht genau, was die Idee bei diesem Projekt war, aber auf jeden Fall war es erfrischend. Zumindest hat es mehr Farbe in den grauen Alltag gebracht, nicht noch mehr Grau. Während des Projektes konnte man ein bisschen abschalten. ... Die Performance war aufsehenerregend und hat viele interessiert. Und noch interessanter war es, weil es hier so was noch nie vorher gab.“
Obwohl nur einige der Teilnehmer_innen Zeit fanden, sich über einen längeren Zeitraum zu treffen und öfter gemeinsam zu arbeiten, hat der Erfolg, den unsere Gruppe dann mit den öffentlichen Auftritten hatte, ein Zusammengehörigkeitsgefühl und vor allem Lust auf mehr Kunstprojekte entstehen lassen.

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39Für unser lebendes Bild hatte ich vorgeschlagen, nach der Farbe ausgesuchte Flohmarktschätze – Hemden, Blusen, Kleider, Gardinen – in pink, türkis und perlweiß aufzutrennen und ziemlich frei erfundene Rokokokostüme daraus zu nähen. Wir hatten keine Schnittmuster und improvisierten nach Anregung zeitgenössischer Gemälde. Aus Schafswolle machten wir uns hohe Perücken und von da an war es nur noch ein Moment, bis wir, weiß geschminkt mit Schönheitsfleckchen und besteckt mit Seidenblumen, im lebenden Bild standen: Auf einer hellen Leinendecke mit Picknickkorb saßen zwei Kinder und ein Herr mit seinem in eine Rokokoweste gekleideten Hündchen, dahinter ein verliebtes Pärchen und zwei über dieses flüsternde Frauen. Die Szenerie hält ein Maler an seiner Staffelei fest, Lasse Hurme: „Damals, als wir das erste Mal zum Treffen gekommen sind, sagte Liisa, der Lasse ist der Künstler in unserer Truppe, er kann unsere Truppe auch verewigen. So kam es, dass ich in der Performance den Maler machte.“
Unser lebendes Bild dauerte zwei Minuten, so lange, wie Mikko Leistola, Peter Lumme und Johanna Schwela vom Bellman Ensemble spielten. Unsere und die Stimmung unserer Zuschauer während der Aufführung und danach, als wir unter den Bäumen im Park von Saari wandelten, war wundervoll. Auch jedes Mal später, als wir in unseren Kostümen gemeinsam mit dem Hündchen Waltsu auftraten, ging ein Schmunzeln im Publikum um und gute Laune verbreitete sich. Dafür – und für die Lehren aus der Geschichte – danken wir Marie Antoinette und Sofia Coppola!

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41Nach dem Fest der Sirenen von Saari 2012, kann ich mich erinnern, hatte mir jemand gesagt, ein ähnliches Werk könnte ich mit Männern in Westfinnland nie machen. Als eine Art Selbstherausforderung beschlossen wir deshalb, den Tag der offenen Tür 2014 der Arbeit von Männern zu widmen. Wie zwei Jahre vorher dreizehn Frauen, wollte ich nun Arbeiter des Unternehmens für Landwirtschafts und Forstmaschinenbau Oy Kongskilde Juko –AG, dessen Schließung der Konzern beschlossen hatte, ehren.

Die Blauen Engel

42Die fünf Männer, die bei der Performance mitwirkten, hatten alle viele Jahre bei der 1949 gegründeten Firma Juko gearbeitet. Drei von ihnen waren inzwischen in Rente, einer arbeitete in der Genossenschaft „Ratas ja Ruuvi“ (Zahnrad und Schraube) und ein letzter noch immer bei Juko. Ende der Siebziger Jahre war das private Unternehmen der größte Arbeitgeber der Region gewesen, in dem mitunter mehrere Generationen einer Familie, Grosseltern, Eltern und die erwachsenen Kinder, beschäftigt waren. Noch zu Beginn der 80er Jahre hatte Juko fast 300 Angestellte. Sie wohnten in der Gegend, kannten sich und verbrachten ihre Freizeit miteinander. Dies und vieles mehr erzählten mir die fünf Männer in Interviews, die ich vor der Performance Blaue Engel mit ihnen führte.
Doch bevor es soweit war, musste ich wieder einmal Teilnehmer finden. Anders als zwei Jahre zuvor kannte ich inzwischen viele Leute in der Gegend und sie mich. Einer von ihnen, Esko Martikainen, hatte bei einer SoundPerformance beim Kunstpicknick 2013 mit Leena Kela und JeanLeon Pallandre gearbeitet. Ihn überredete ich, mein erster blauer Engel zu werden und gemeinsam begannen wir die Planung der Performance. Ich hatte Esko von den Sirenen von Saari erzählt und dass ich einige Elemente der Performance, den roten Teppich, die Musik und einen Toast auf die Teilnehmer, wiederholen wollte.
Wir unterhielten uns viel über die Firma Juko und Esko sprach von ihr als einem Phönix, der immer wieder aus der Asche auferstanden ist. Das Bild vom Phönix faszinierte mich, hinter dem Bild sah ich die Firmenbelegschaft, die jedes Mal einen Weg gefunden hatte, ihren Betrieb zu retten. Und als mir Esko bei einem meiner zahlreichen Besuche alte Blaumänner mit dem Firmenaufdruck Juko zeigte, kam uns die Idee: die Männer waren Engel des Alltags – in ihren Arbeitsoveralls blaue Engel. In einer alten Scheune auf dem Fabrikgelände, Lager für alle möglichen zu verschrottenden Landmaschinenteile, fand ich dann auch noch alte blaue
Plastikteile und beschloss, sie für Engelsflügel zu verwenden.

43Esko und Aktive vom Asemanseudun kylät ry –e.V. hatte inzwischen mit Kollegen und ehemaligen Arbeitern von Juko gesprochen, und vier Männer entschieden sich, bei dem Kunstprojekt mitzumachen. Der Vorbereitungsprozess war kurz und von Pausen unterbrochen, aber sehr intensiv. Zu meinem großen Erstaunen haben mir die Männer voller Vertrauen und ergreifend aus den 65 Jahren Firmengeschichte von Juko erzählt, die lange Geschichte ihres Arbeitslebens und manche privaten Erlebnisse mit mir geteilt und all meine Fragen beantwortet. Sie beteiligten sich aktiv an der Erarbeitung der Performance und sogar auf die blauen, mit Glitter bestreuten Engelsflügel ließen sie sich ein.
Am Vorabend des Tages der offenen Tür hörte ich dann noch den einen oder anderen Kommentar („Ich jedenfalls bin morgen krank“), der mir das Herz in die Hosentasche rutschen ließ, aber natürlich fuhren dann alle fünf Engel mit Traktoren und einem Bagger im Konvoi in den Park vorm Hauptgebäude. Sie setzten in ihren blauen JukoOveralls vier Ahornbäume, während ich die Kurzgeschichten ihrer Leben vorlas. Zuletzt pflanzten wir gemeinsam eine ihrer Firma gewidmete Eiche. Jeder der Blauen Engel hatte einen Zukunftswunsch auf eine Holzschindel geschrieben und vorgelesen, die er dem Baum mit auf den Weg gab. Danach liefen sie über einen roten Teppich zum Festtisch und wir stießen mit BlauenEngelCocktails an, während das Ensemble „Penan Pojat“ für sie sang. Dann erzählte jeder von ihnen eine Episode aus seinem Arbeitsleben. Zum Abschluss der Performance verlieh ich ihnen als Dankeschön Held der Arbeit –Phantasieorden, die ich aus alten Zahnrädern und Schrauben aus der Schatzkammer von Juko gebaut hatte. Nach dem Ende der Vorstellung, das Publikum hatte sich zerstreut und wir uns ein letztes Mal umarmt, fragte einer von ihnen „Aber die Flügel dürfen wir doch mitnehmen, oder?“. Da wusste ich: Mit Männern aus Südwestfinnland kann man fabelhaft künstlerisch arbeiten. Es war manchmal traurig, oft berührend und alles in allem wunderschön!
Abschließend möchte ich Esko zitieren: „Ich schätze inzwischen viel mehr, was in der Residenz Saari gemacht wird. Und aus den Kommentaren, die ich von anderen gehört habe, kann ich nur schließen, dass sie so etwas auch gern sehen. Für solche Aktionen und Aufführungen, wie Pia sie gemacht hat, gibt es eindeutigen Bedarf. ... Alles in allem kann ich nur sagen, gut dass ich mitgemacht habe.“

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45Als ich im Februar 2013 sechs lange Wochen krank war, musste ich still und ruhig halten, hatte auf einmal Zeit – und war viel allein. Ich vermisste meine Familie, meine Freund_innen, Kolleginnen, Bekannten und meinen gewohnten, emsigen Alltag schmerzlich … Da fiel mir eine Frau ein, die an einem meiner Projekte teilgenommen hatte. Sie hatte mir erzählt, dass sie schon vor langem einen ihr sehr nahe stehenden Menschen verloren und wie qualvoll das noch Jahrzehnte später war. In meiner betrübten Einsamkeit kam mir ihr tiefer Schmerz ganz nahe und ich dachte mir das Trauerhaus aus.

Das Trauerhaus

46Ich erinnerte mich an ein hinter sich zu lassendes Haus, das ich mir einmal ausgemalt hatte. Es sollte ein Haus voller Dinge sein, von denen ich mich nicht trennen wollte oder konnte, die ich aber nicht mehr um mich herum brauchte. Ich wollte sie da zurücklassen, besuchen, ihrem Vergehen zuzusehen und ganz langsam Abschied von ihnen nehmen.
Im Internet schaute ich mir melancholische Fotos verlassener Häuser, Schlösser, Fabriken und Rummelplätze an und stieß auch auf ein Bild der Tempelanlage Angkor Wat im kambodschanischen Urwald. Riesige Wurzeln umfingen das uralte Heiligtum bei seinem langen, langen Zerfall. Könnten so statt Dingen auch Schmerz und Trauer in einer Umarmung der Natur still und langsam vergehen?
Könnte man die Sorgen in einem Haus lassen, in dem kein Fußboden wäre und keine Fenster, und zusehen, wie ein Baum zu wachsen beginnt, in dem sie aufgehoben sind? Könnte man Schmerz, Verzweiflung und Tränen aus sich heraus in ein kleines Objekt fließen lassen, das man mit den Sorgen symbolisch ablegt und hinter sich lässt? An einem Platz, wo die Natur trösten würde – inmitten ewig wiederkehrender Flora und Fauna im Wald, unter Bäumen, die im Winter ruhen und im Sommer in Regen und Sonne wachsen …

47Ich unterhielt mich mit meinen Freund_innen, Bekannten und Kolleginnen über die Idee und begann mit der Konzeption des Trauerhauses, bei der ich verschiedenste Einflüsse vereinen wollte: alte und neue, nahe und ferne, heidnische und göttliche. Anfang Juni lud ich die ausführenden Bauleute Hannele Aho-Akkanen und Harri Akkanen zu einer Besprechung der Entwürfe ein. Zum Glück waren beide nachsichtig und geduldig mit mir, denn was anfangs auf dem Papier noch gut aussah, hat dann, um die alten Fenster und die Tür herum auf den Boden der Maschinenhalle gemalt, doch nicht so geklappt. Aber gemeinsam kamen uns viele neue Ideen und am Ende ist das Haus nun eine Mischung aus finnischen und sächsischen Elementen. Liebe Hannele und Harri, Danke für diesen Stilhybriden aus Dresdner Barock und gustavianischem Klassizismus!
Ich machte neue Zeichnungen und drei Wochen später begannen auf dem Hof vor den ehemaligen Stallgebäuden die Bauarbeiten, bei denen ich sicher oft im Weg war, wenn ich vorbei kam und versuchte, mich nützlich zu machen … Noch als der Rohbau schon fast fertig war, suchten wir nach einer Lösung für die Fassade. Da fand Heidi, unsere Gärtnerin, zum Glück eine Anzeige in der Zeitung, dass alte verwitterte Bretter einer ehemaligen Scheune zu verkaufen waren. Das Trauerhaus wurde mit ihnen verkleidet, in den Wald transportiert und zum Schluss mit Fensterbrettern und Eckregalen komplettiert. Hannele begann mit der Innenausstattung, sie malte und tapezierte unseren gemeinsamen, bis zum Schluss sehr veränderlichen Plänen entsprechend. Ein paar Monate später im Herbst fragte dann eine unserer Residenzkünstlerinnen, ob wir wohl wüssten, dass auf unserem Gelände ein verlassenes Häuschen stünde …
Und mein Traum erfüllt sich unterdessen auch: An den Wänden vergilbt die Tapete, von einem hellblauen Flor bedeckt, und im Haus treiben kleine Bäumchen aus. Auf den Fensterbrettern und an den Wänden finden sich immer wieder Spuren von Tieren und Vögel haben ihre Nester unterm Dach gebaut. Auch die breite Schneise, durch die das Haus in den Wald transportiert wurde, ist verschwunden. Alles ist überwuchert und sieht fast unberührt aus.

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49Vor kurzem stieß ich zufällig auf einen Artikel, der mich sehr beeindruckt hat. Ich verfolgte die Quellenhinweise und stieß auf Andrew Solomon, der Dozent für Psychiatrie in Cornell / New York ist und darüber hinaus Aktivist und Philanthrop auf den Gebieten LGBT-Menschenrechte, Kunst und Psychische Gesundheit. Er hält weltweit Vorlesungen und ist der preisgekrönte Autor des Buches „Far From The Tree: Parents, Children and the Search of Identity, A Stone Boat, and The Noonday Demon: An Atlas of Depression“ [“Weit vom Stamm: Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind”]. Er lebt mit seinem Mann und Sohn in New York und London.
Als Erzähler im Forum „The Mot“ beschreibt er seine Erlebnisse während einer Reise durch Afrika. In Ruanda unterhielt er sich mit einem Mann, der westliche Methoden bei der Behandlung von durch Genozid traumatisierten Menschen beobachtet hatte – und diese für vollkommen falsch hielt. Er sagte zu Solomon in etwa, dass es mit den westlichen Spezialisten, die direkt nach dem Genozid nach Ruanda kamen, so viel Ärger gegeben hatte, dass sie sie nach Hause schicken mussten. Die Genozid-Opfer nämlich sollten, eines nach dem anderen, in einem kleinen düsteren Zimmer mit dem Therapeuten eine Stunde lang über ihre schrecklichen Erlebnisse sprechen. Es war weder geplant, sagte er, im Freien in der Sonne zu sein, wo man sich gleich besser fühle, noch sollten Musik oder Trommelspiel das Blut wieder zum Fließen bringen. Der Einzelsitzungen wegen konnten sich die Angehörigen der Gemeinschaft auch nicht gegenseitig unterstützen und aufheitern, obwohl sich dafür alle extra freigenommen hatten. [9]
Die simple Feststellung des Mannes aus Ruanda, dass neben Sonne und Musik gegenseitige Unterstützung und gemeinsames Handeln die wichtigsten „Heilmittel“ sind, hat mich in ihrer elementaren Klarheit beeindruckt und darin bestätigt, in Gruppen zu arbeiten.

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51Mit dem Trauerhaus arbeite ich in Workshops, bei denen sich die Teilnehmer_innen mit ihrer Trauer, mit Leid und Sorgen auseinandersetzen und individuelle Kunstobjekte gestalten. Dabei können sie auch ausdrücken, wofür sie keine Worte finden. Der künstlerische Wert der Werke ist irrelevant, denn es geht um die inhaltliche Bedeutung, die die Gegenstände für die Herstellenden selbst haben. Die „Sorgen-Objekte“ sind sehr privat und keine öffentlichen Kunstwerke. Der vielschichtige Prozess des Workshops endet mit einer Gesprächsrunde, bei der alle über ihre Arbeiten, ihre Gefühle und Erfahrungen sprechen. Danach werden die Objekte im Trauerhaus allein oder gemeinsam rituell der Natur anvertraut. Die Bestimmung der Objekte ist es dann, zu vergehen.
Schon Anfang des Sommers 2013, ehe mit dem Bau des Hauses überhaupt begonnen war, habe ich mit acht Frauen den ersten Trauer-Workshop durchgeführt. Wir verbrachten einen langen Nachmittag zusammen und redeten über ihren Schmerz und ihre Sorgen und auch darüber, wie diese visualisiert werden könnten. Dann suchte sich jede einen stillen Platz im Garten und begann mit der Gestaltung ihres Objektes. Ich selbst hatte Zeit und Ruhe, jeder von ihnen zuzuschauen, zuzuhören und oder praktischen Rat anzubieten, wenn es um die Verwirklichung ihrer Ideen ging. Zum Abschluss des Tages stellte jede Teilnehmerin ihre Arbeit ausführlich vor und erklärte allen, was sie gemacht hatte und warum so und nicht anders. Die Werke brachten wir einen Sommer später ins Trauerhaus.
Inzwischen ist eines ihrer Werke aus Wolle verlorengegangen und wer weiß, ob es nicht jungen Vögeln oder Füchsen das Nest polstert. Auch die getrockneten Erbsen eines anderen Objektes sind längst abgeknabbert und ein weißes Seidenband, das an ein Fensterkreuz gebunden war, ist verschwunden …
Eine andere Möglichkeit ist die individuelle Arbeit mit dem Sorgenhaus. Im Sommer 2014 durfte ich die Künstlerin Helena Hietanen eine Woche lang bei ihrer Trauerarbeit begleiten, während der sie traurige und bedrückende Erinnerungen mit mir teilte. Wir verbrannten alte Papiere, legten einen Pfad aus deren Asche an, brachten einen Teil ihrer alten Gipsarbeiten in den Wald beim Sorgenhaus, pflanzten kleine Eichen nahe dem Eingang und zum Schluss dokumentierte ich ihre kurze rituelle Performance für sie. Später schrieb sie mir, als wie wohltuend sie diese Zeit erlebt hat und dass sie besonders das Milieu in Saari und die Stille des Waldes als heilend in Erinnerung behalten hat.

52Das ist aber erst der Anfang, das Haus gibt es nun und die Sorgen gibt es allemal. Ich hoffe, dass ich noch viele Menschen dabei begleiten darf, wenn sie ihren Schmerz teilen, miteinander reden und am Schluss gemeinsam ihre kleinen SorgenObjekte der Umarmung der Natur überlassen, um leichter in die Zukunft gehen zu können.

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54Während der öffentliche Sektor und seine Strukturen in der neoliberalen Marktwirtschaft abgebaut werden, wird in Politik und Wirtschaft gern von Gemeinschaftlichkeit gesprochen. Kunst und Kultur sollen die „weichen Werte“ in einer harten Welt hochhalten. Mir aber scheint mitunter, als sollten gemeinschaftliche Kunstprojekte bisweilen eher ein Pflaster auf gesellschaftlich verursachte Blessuren sein …
Dieses Gefühles kann ich mich besonders dann schwer erwehren, wenn bürokratische Verwaltung und Finanzierung die Arbeit der Künstler_innen im Voraus bestimmt und der „partizipatorische“ Spielraum der Teilnehmer_innen eher an Kinderkunstschulen oder Volkshochschulkurse erinnert. Community Art aber braucht Zeit, den Aufbau gegenseitigen Vertrauens, Diskussion und Dialog – den ganzen Prozess. Diese Voraussetzungen sind bei meiner Arbeit in Saari garantiert. Nur durch den langen Zeitraum, in dem ich mit Menschen dort zusammengearbeitet habe, sind eine wirkliche Begegnung, Vertrauen und gegenseitige Achtung zustande gekommen. Das ist die Grundlage für all meine Projekte. Der Prozess von einem künstlerischen Vorschlag meinerseits bis zu einem fertigen, gemeinsam erarbeiteten zeitgenössischen Kunstwerk ist lang – ich glaube, keine einzige meiner anfänglichen Vorstellungen oder Visionen war im künstlerischen Endergebnis je mehr zu erkennen.
Und auch wenn ich immer noch einmal Voreingenommenheit oder Überheblichkeit an mir selbst bemerke, lerne ich doch fortwährend dazu, sowohl im ethischen und moralischen Bereich wie auch in ganz allgemeinen, praktischen Fragen. Dadurch hat sich der inhaltliche Spielraum innerhalb der Projekte vergrößert und auch wenn Gespräche und Auseinandersetzungen mitunter endlos sind, sind sie unverzichtbar.
Leider gibt es noch keine wissenschaftliche Untersuchung über die Arbeit der Community Art –Künstlerinnen mit der Bevölkerung in der Gegend. Deshalb möchte ich abschließend einige Zitate aus Interviews mit Teilnehmer_innen verschiedener Projekte vorstellen:

„Meiner Meinung nach hat Community Art immer einen Zweck und bezieht irgendwie auch Position. … Unsere Sirenen von Saari haben vielleicht zum normalen Alltag von Menschen Position bezogen – dazu, was ganz normale Menschen erreichen, welch große Errungenschaft das Leben ganz normaler Menschen sein kann. Man überlegt sich vielleicht sonst nie so richtig, was Menschen in ihrem Leben alles gemacht und wie viel sie erreicht haben – wie wichtig der „kleine“ Mensch ist.“ Marjo Hentunen

55„Man hat natürlich auch selber gedacht, das Kunst nur was für bestimmte Kreise „dort oben“ ist. Und dann gibt es solche „UnterArten“, die wir verstehen, und die gehören hierher. Vielleicht ist Community Art auch eine Art Kunsterziehung. Auf jeden Fall habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass ich die Dinge jetzt aus einer etwas anderen Perspektive betrachte und auch etwas andere Kunstwerke verstehen möchte, nicht nach Schubläden sortiert. … Ich muss zugeben, dass das eigene Auge und die Fähigkeit, Kunst zu sehen, nun ein wenig besser trainiert ist. Man kann sehen, dass ein Kunstwerk, zum Beispiel ein Bild, nicht bloß so hingemalt ist, sondern mehr dahinter steckt, wenn es gemacht wird.” Eija Haapsaari

Notes   

1  Teile dieses Artikels sind Auszüge aus einem Buch der Stiftung KONE über Community Art, an dem ich zurzeit arbeite. Mehr über diese und verschiedene andere Kunstwerke finden sich auf der Seite http://www.koneensaatio.fi/en/saari-residence/yhteisotaiteilija/pia-bartsch/.

Citation   

Pia Bartsch, «Die Idee, die aus der Kälte kam – Community Art in Finnland1», Filigrane. Musique, esthétique, sciences, société. [En ligne], Numéros de la revue, Edifier le Commun, I, Buen Vivir et Commun(s), mis à  jour le : 22/03/2016, URL : https://revues.mshparisnord.fr:443/filigrane/index.php?id=713.

Auteur   

Pia Bartsch